Am Ende sind wieder die Lehrer an allem Schuld

Eine Replik von Martin Schönemann auf den Aufsatz von ►Otto Herz: Inklusion ist eine Haltung

Was Otto Herz in diesem Artikel vorbringt, das ist im Ansatz sicher richtig und nobel gedacht, im Konkreten aber durchaus fragwürdig. Dazu einige Beispiele: „Angesichts der prinzipiellen Vielfalt des Menschen und der Menschheit (…) kann es keine geschlossenen (…) Handlungskataloge geben.“ Wieso eigentlich nicht? Je vielfältiger die Menschen sind, desto mehr sehnen sie sich doch nach Gemeinsamkeit. Und diese Gemeinsamkeit werden sie ohne „Handlungskataloge“ nie erlangen. „Leistungsbewertungen orientieren sich an den Leistungs-Möglichkeiten der einzelnen Personen.“ Auch hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Natürlich ist jedes Lernen individuell. Anerkennung aber ist sozial. Wenn man Personen nur an sich selbst misst, dann treibt man sie in die soziale Isolation.

„Verstörte Menschen sind oft Opfer verstörter Verhältnisse.“ Diese Wahrheit mag für den Gesellschaftswissenschaftler interessant sein. Dem verstörten Menschen hilft sie nicht. Wenn man eine Person nicht als Ganzes, auch in ihrer Verstörtheit, ernst nimmt, dann nimmt man ihr die Würde, degradiert sie zum Opfer. „Inklusion ist eine Haltung“ – das ist schön gedacht, hat aber den Pferdefuß vieler reformpädagogischer Theorien: Haltung lässt sich nicht verordnen. Ja, im Gegenteil: Die nobelste Haltung wird zur autoritären Doktrin, sobald sie verordnet wird.

Ich als Vater eines in Hamburg schulpflichtigen Kindes höre von Inklusion bisher gerade nicht als "von Haltung", sondern als von behördlich angeordneter Veränderung des Schulsystems, die sich (ganz unabhängig von der vielleicht zugrundeliegenden Haltung) an dem messen lassen muss, was sie für die betroffenen Individuen bringt. Und was ich da höre, ist vermutlich auch nicht im Sinne von Otto Herz: Wenn Förderschulen zerschlagen werden und die ehemaligen Förderschüler sich jetzt als normale Schüler an normalen Schulen widerfinden, dann liegt es auf der Hand, dass die (ja auch von Otto Herz eingeforderten) Lernbegleiter für dieses Kind eher weniger, seltener und unspezifischer ausgebildet vorhanden sind. Eine Achtung vor der Individualität des Kindes ist das nicht gerade.

Und wenn Gymnasien unbequeme Förderschüler ablehnen können, Stadtteilschulen sie aber aufnehmen müssen, dann ist auch eine Zunahme an sozialer Gerechtigkeit nicht zu erwarten. Wahrscheinlich will Otto Herz diese Reform auch gar nicht so, wie sie jetzt durchgeführt wird. Aber er leistet mit seinen unkonkreten Worten einem schulpolitischen Handeln Vorschub, das die Verantwortung für den Erfolg von Schule auf die ausführenden Mitarbeiter verschiebt. Wenn Inklusion eine Haltung ist, dann ist die Schulbehörde fein raus und am Ende sind wieder die Lehrer an allem Schuld.

bleistift

 

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