Im Brennglas der Situation. Neue Ansätze in der Gewaltsoziologie

Mittelweg 36, Heft 1-2 | April/Mai 2019 ist erschienen

Mitteilung: Hamburger Institut für Sozialforschung

Das Interesse der jüngeren sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung war in den vergangenen Jahren vornehmlich auf die möglichst detaillierte Beschreibung konkreter Gewaltsituationen gerichtet. Seit einiger Zeit jedoch mehren sich die Stimmen, die Skepsis an der Leistungsfähigkeit des situationistischen Paradigmas artikulieren und methodische Neuerungen einfordern. Höchste Zeit also, einmal kritisch in Augenschein zu nehmen, was Im Brennglas der Situation sichtbar wird – und was nicht.

In ihrer Einleitung erörtern Thomas Hoebel und Stefan Malthaner, weshalb sie die maßgeblich von Randall Collins geprägte situationistische Gewaltforschung Über dem Zenit angekommen sehen, und zeigen sowohl deren Grenzen als auch mögliche Perspektiven zu ihrer Weiterentwicklung auf. Anschließend verortet zunächst Wolfgang Knöbl Collins im Kontext theoriegeschichtlicher Bezüge und systematischer Fragestellungen, bevor Eddie Hartmann unter der Überschrift Produktiver Reduktionismus eine Lesart von Collins‘ Ansatz vorstellt, mit der er diesen gegen Fehldeutungen und Missverständnisse zu verteidigen sucht. Im Gespräch mit Eddie Hartmann erläutert Randall Collins, was An der Schwelle zur Gewalt geschieht und warum die mikrosoziologische Perspektive nicht nur theoretisch ergiebige, sondern auch gesellschaftlich nützliche Einsichten ermöglicht. Die Frage, was Menschen dazu bewegt, anderen Menschen exzessive Gewalt anzutun, deren Ausmaß nicht nur tödlich, sondern Mehr als tödlich ist, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Lee Ann Fujii, der hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Kritik am »Anwesenheitsbias« des situationistischen Paradigmas und Vorschläge zu seiner Erweiterung artikulieren sodann drei Fallstudien. In »Wir haben Charlie Hebdo getötet!« analysiert Thomas Hoebel anhand des Attentats auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift im Januar 2015 die Bedeutung abwesender Personen für die Entwicklung von Gewaltdynamiken. Vincenz Leuschner erläutert, welche Rolle virtuelle Bezugsgruppen und imaginäre Zuschauer für die Täter von School Shootings spielen: »Mein Foto wird durch sämtliche Sender flimmern«. Und Stefan Marthaler beschreibt mit Blick auf den im Zuge der #NoG20-Proteste im Sommer 2017 ausgebrochenen Riot im Schanzenviertel, inwiefern das scheinbar unkontrollierte Handeln von Gewaltakteuren auf durchaus anspruchsvollen Situationsdeutungen beruht. Zweifel an den selten explizit thematisierten emotions- und handlungstheoretischen Grundlagen von Collins‘ Mikrosoziologie und ihrem universalen Erklärungsanspruch artikuliert Laura Wolters, die ungläubig fragt: Vorwärtspanik am Wickeltisch? Zum Schluss nimmt Rainer Schützeichel Das Problem der Situation aus einer theoretischen Perspektive in den Blick und diskutiert die Relevanz des Konzepts für soziologische Fragestellungen jenseits der Gewaltforschung.

In der Protest-Chronik, in der es diesmal nicht um vergangene, sondern höchst gegenwärtige Ereignisse geht, stellt Wolfgang Kraushaar die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg und die von ihr ins Leben gerufene Protestbewegung vor.

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PM v. 5.4.2019
Hamburger Institut für Sozialforschung
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