Überlastungsanzeige: WIR MACHEN ALLES! Inklusion mal andersrum

Überlastungsanzeige


Brigitte Pick hat uns diese Überlastungsanzeige weitergeleitet:

Über einen guten Freund erreicht mich der Brief einer Lehrerin, die auch ich entfernt kenne, die an ihre Grenzen der Belastbarkeit gerät.

Leider will sie anonym bleiben, da sie Nachteile befürchtet. So ist das in der Konkurrenzgesellschaft heute offensichtlich. Sie sagt, in Berlin interessiere die Zeitungen ihr Brief nicht. Vielleicht liegt es daran, dass er anonym ist und man nicht weiter nachfragen kann.

Ich sehe nirgendwo, dass sich die Verhältnisse in der Schule trotz Strukturreformen bessern, denn es fehlt an Personal, an Stundenreduzierung und weniger am Geld. In Berlin zahlt man nun den Lehrern an sogenannten Brennpunktschulen 300 Euro mehr. Ob das die Qualität verbessert? Ich glaube kaum.

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Hier ist der Brief der Berliner Kollegin:

WIR MACHEN ALLES! Inklusion mal andersrum

Ich bin Lehrerin an einer integrativen Gemeinschaftsschule im Bezirk Kreuzberg. Ich habe zurzeit eine 8. Klasse als Klassenlehrerin. Schwierige Schüler*innen, mehrere Neuzugänge, die kaum Deutsch sprechen, sechs lernbehinderte Schüler*innen und einen Schüler mit dem Status emotionale und soziale Entwicklung. Neben meiner vollen Unterrichtsverpflichtung habe ich mit der Schulpsychologie, diversen Jugendämtern, 23 Eltern, Jahrgangskonferenzen, Gesamtkonferenzen, Fachkonferenzen, Hilfekonferenzen, Klassenkonferenzen, Regionalkonferenzen, Elternabenden, Elternsprechtagen, Klassenfahrten zu tun. Bestimmt habe ich nicht alles aufgezählt, aber es scheint mir so schon mehr als ausreichend, zeitlich weit mehr jedenfalls als 40 Stunden Aufwand in der Woche.

Lächerlich: Für die Klassenlehrer*innen gibt es eine halbe Stunde Ermäßigung pro Woche! Wenn ich eine halbe Stunde pro Woche für meine Schüler*innen aufwendete, könnte ich alles, was ich oben aufgezählt habe, nicht erledigen.

Und: Kommt eine Neuerung von Seiten des Senats, zögern wir nicht, denn:

WIR MACHEN ALLES!

Die letzte Neuerung, die Verlängerung bzw. Neubeantragung von dem Förderstatus inkludierter Kinder. Das erledigen wir dann jetzt auch noch. Für mich und meinen Kollegen hieß das in den vergangenen Wochen acht Anträge zu schreiben, diverse Klassen- und Hilfekonferenzen dafür durchführen, Organisation von Testungen der Kinder durch Sonderpädagog*innen und dem Sibuz (Schulpsychologisches und Inklusionspädagogisches Beratungs- und Unterstützungszentrum) organisieren, Elterngespräche ohne und mit dem Sibuz führen …

Kaum jemand von uns drückt sich vor der Arbeit. So langsam sind wir an einem Punkt angelangt, von dem aus wir für alles Organisatorische, was mit unseren Klassen zu tun hat, so viel Zeit benötigen, dass wir unsere eigentliche Arbeit, das Unterrichten der Kinder, nur noch nebenbei erledigen können. Wir würden sonst krank. Unsere Unterrichtsvorbereitung müsste eigentlich mehrfach differenziert angelegt werden, bei sechs lernbehinderten und einigen nicht gut Deutsch sprechenden Schüler*innen kann sich jede*r vorstellen, dass man nicht allen dasselbe anbieten kann. Also eine drei- oder vierfache Differenzierung!

Statt die von der GEW geforderte Stundenreduzierung umzusetzen, kommt immer wieder was obendrauf. Wann sagen wir endlich NEIN? Und wem sagen wir das? Und hört uns überhaupt jemand? Und wir braven Beamt*innen (und Angestellten) machen ALLES, ohne zu murren!! Aber ich schreie jetzt! ES REICHT!!!

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Grafik: kmicican. pixabay.com, Lizenz: CC0

Ein Kommentar

  • Imago

    Was die Lehrerin oben schreibt kommt mir (auch wenn ich selbst nicht zu dieser Berufsgruppe gehöre) sehr bekannt vor, denn ich gehe mit offenen Sinnen durch’s Leben und beobachte diese zunehmende Überlastung längst schon bei sehr vielen Menschen in allen möglichen Berufssparten. Und ich „frage mich daher“ auch schon lange, was eigentlich los ist mit dieser Bevölkerung, der nun schon seit Jahrzehnten einerseits immer mehr Leistung abverlangt, andererseits aber auch immer mehr an finanzieller Belastung zugemutet werden kann und dass sich die großen internationalen Konzerne hingegen immer mehr aus der Verantwortung stehlen können, ohne dass sich diese Bevölkerung endlich einmal GEMEINSAM entschieden gegen diese INSGESAMT NUN IMMER RÜCKSICHTSLOSER DURCHGESETZTEN UNGEHEUERLICHKEITEN wehrt?!!

    Ist die Fragmentierung (und auch die weitgehende Gedankenlosigkeit) innerhalb dieser Gesellschaft etwa schon so weit fortgeschritten, dass nun keine „nennenswerte Gegenwehr“ mehr möglich ist? Haben die jeweils erlangten Statussymbole für den Großteil der Bevölkerung etwa immer noch einen solch‘ hohen sedierenden Wert, dass alle inzwischen damit verbundenen Nachteile all dies noch immer aufzuwiegen vermögen, oder „bröckelt“ nun endlich doch einmal immer deutlicher sichtbar „der Theaterputz von den Wänden“?

    Der alte Untertanengeist, eine Vielzahl derzeit noch erlangbarer Trostpflästerchen und wohl auch viel gegenseitiges Misstrauen hält die meisten Leute offenbar trotz aller Aufklärung noch immer in Schach.

    Meine Güte, was für ein Trauerspiel; man belehre mich GERNE EINES BESSEREN!