Das Ethos der Erziehung
Was ist elementar?
von Hartmut von Hentig
- Die tatsächliche oder vermeintliche Zunahme ungeordneten Verhaltens von Kindern und Jugendlichen hat die Behauptung hervorgerufen, die ‚Erziehung“ sei gegenüber der „Bildung“ und der „Ausbildung“ vernachlässigt worden.
- Die Forderungen nach Zucht, Strenge und Führung als Grundlage der Erziehung nehmen zu.
- Die notwendige Korrektur des Falschen ergibt noch nicht das notwendige Richtige.
- Was ist also elementar in der "Erziehung"?
- Wer erziehen will, muss „geschehen lassen“ können, „Zeit verlieren“, Geduld haben.
- Allen, die einen ausdrücklich pädagogischen Beruf haben, sollte darum vor Antritt desselben eine gänzlich andere Aufgabe in der Welt zugemutet werden.
Vorbemerkungen zum Aufsatz von Hartmut von Hentig
von Hans Grillenberger
Geschichte eines Artikels – Dokumentation zu „Das Ethos der Erziehung. Was ist elementar?“ von Hartmut von Hentig
Als im Jahr 2008 AUSWEGE online ging, wandten wir uns an Hartmut von Hentig mit der Bitte uns einen Beitrag zu unserem Magazin zu schreiben. Aus dem Brief von damals:
Lieber Herr von Hentig,
[…] Nachdem ich mich im Verlauf der vergangenen Jahre im bildungspolitischen Apartheidsystem Bayerns zunehmend resignierter und mutloser gefühlt habe, entschlossen sich einige KollegInnen und ich, vornehmlich aus dem Hauptschulbereich und mittlerweile über 50, in unserem Kreis (Ansbach, Mittelfranken) nach langer Brache die Gewerkschaftsarbeit wieder zu aktivieren. (Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fristet, wie Sie vielleicht ahnen oder wissen, in Bayern ein oft belächeltes Nischendasein.)
Unsere kleine Gruppe besteht allerdings nicht aus dogmatischen Gewerkschaftern im klassischen Sinn, sondern versucht unter dem Dach der GEW vor Ort eine lebendige Plattform für all diejenigen zu schaffen, die als KollegInnen, als Eltern und als SchülerInen in Bayern dem übermächtigen Weltbild der CSU-Bildungsbürokratie etwas entgegensetzen wollen. Eben „das Richtige denken, das Mögliche tun“. Dazu starteten wir im Januar mit einer eigenen Homepage, in der integriert die Online-Zeitschrift „Auswege“ platziert ist.
Nach der langen Vorrede nun mein eigentliches Anliegen an Sie: Wir würden uns riesig freuen, wenn wir in dieser Zeitschrift eine Anschubunterstützung durch eine Persönlichkeit, wie Sie es sind, erhalten. Könnten Sie sich vorstellen, uns mit einem Text aus Ihrer Feder – ja! – zu bereichern?. […]
Mit herzlichen Grüßen
Hans Grillenberger
Hentig antwortete:
Lieber Herr Grillenberger,
[…] Einfach irgendetwas schreiben — das gelingt mir nicht. Ich muss einen Auftrag haben, einen möglichst genauen und einen, den ich nicht schon etliche Male erfüllt habe. Was ich im großen Bereich der Bildung sagen kann, habe ich gesagt und in der Regel auch geschrieben und drucken lassen. Das mag ich nicht wiederholen und bin — umgekehrt — inzwischen so weit von der pädagogischen Praxis entfernt (es sind jetzt genau zwanzig Jahre her, dass ich die Bielefelder Schulen verlassen und mich in die Emeritierung begeben habe) ‚ dass mir etwas für die heutigen Lehrer und Schüler Taugliches nicht so leicht einfällt […].
Es grüßt Sie aufs freundlichste Ihr
Hartmut von Hentig
In den folgenden Wochen entwickelte sich ein kleiner Briefwechsel. Am 10.3.08 schrieb AUSWEGE:
Lieber Herr von Hentig,
[…] Mich interessiert, wie ein Mensch wie Sie, der ein Gefühl für Sinn, für Gelassenheit, für Mitgefühl entwickelt hat, Fragen wie die folgenden sieht?
Was bewirkt, dass Menschen sich füreinander öffnen? Wie gelingt es, all die Konzepte, Theorien, lediglich als bloße Hilfsmittel für das Zusammenleben von Menschen zu sehen, und das Bemühen um Anteilnahme ins Zentrum der Arbeit zu stellen? Worauf sollte sich angesichts begrenzter Kräfte die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern reduzieren?
Wenn Sie in Ihrem Alter auch noch an denselben Fragen kauen, die Ihr Brief in mir wieder angestoßen hat, freute ich mich über Ihre Gedanken. […]
Ich kann aber auch gut nachvollziehen, wenn Sie meinen Retourbrief einfach als Abschluss meiner Anfrage für unser Online-Magazin beiseite legen. […]
Herzliche Grüße
Hans Grillenberger
Aus der Antwort von Hartmut von Hentig:
Lieber Herr Grillenberger,
[…] Ich werde im Laufe dieses Sommers eine letzte, knappe Bilanz ziehen, in der ich die Wirkungen / die Wirksamkeit meines Berufslebens, meiner Bürgereigenschaft und meiner persönlichen Lebensführung prüfe […].. Es wird nicht ohne Kritik an meiner Zunft abgehen, aber die wird nicht im Mittelpunkt stehen. Ich bin, je älter ich werde, umso überzeugter, dass wir uns in unseren Spezialisierungen, unserer Begriffssucht, unseren Mittelsystemen und unserem Methodenfetischismus verheddert haben und nur durch radikale Vereinfachung, Verlangsamung, Verkleinerung, Entmediatisierung zu einer verständigen Pädagogik und Politik kommen. Sollte mir dies gelingen, werde ich Ihnen das Ergebnis schicken, und sollte der Umfang dies zulassen, Ihnen eine Abdruckerlaubnis erteilen [..]
Es grüßt Sie für heute aufs freundlichste Ihr
Hartmut von Hentig:
Die Redaktion von AUSWEGE schrieb daraufhin zurück:
Lieber Herr von Hentig,
Ihre Antwort auf meinen Brief vom 23. März hat mich sehr gefreut.
Aus zwei Gründen: Sie stellen mir bzw. den Initiatoren des Online-Magazins AUSWEGE eine „letzte, knappe Bilanz“ Ihrer Tätigkeit in Aussicht und – was für mich persönlich wichtig ist – Sie stärken mich in meinem mitunter einsamen Bemühen in unserem Beruf ein sich Zeit lassendes, achtsames und sich politisch verstehendes Arbeiten zu propagieren, in dem Beziehungen im Mittelpunkt stehen.
Mir scheint, dass in unserer Zeit viele Menschen, auch in unserem Berufsfeld schier gebannt sind von der Vielfalt der gebotenen Konzepte, technischen Raffinessen und Methoden und ruhelos umher irren, um nur ja nichts zu verpassen. Ablenkungsmanöver von Süchtigen folgen einem ähnlichen Muster.
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein Gelingen Ihrer Arbeit und grüße Sie
Hans Grillenberger
Diese „letzte knappe Bilanz“ wurde im vergangenem Jahr von der Zeitschrift für Pädagogik unter dem Titel „Das Ethos der Erziehung. Was ist elementar?“ veröffentlicht. AUSWEGE bat die Redaktion der „Zeitschrift für Pädagogik“ um eine Abdruckerlaubnis:
Redaktion der „Zeitschrift für Pädagogik“,
[…] Der Hintergrund meiner Anfrage mag Sie vielleicht interessieren: Vor nunmehr zwei Jahren schrieb mir Hartmut v. Hentig in einer persönlichen Korrespondenz, dass er noch einmal an einer Essenz seiner Ideen arbeitet und diese veröffentlichen möchte. Er würde sich freuen – so damals in 2008 – wenn der Verlag, der dann für ihn die Sache in die Hand nehme, unserem Magazin eine Abdruckerlaubnis gäbe. Ich würde mich freuen, von Ihnen eine positive Antwort zu bekommen.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Grillenberger
Der Verlag erteilte die Abdruckgenehmigung. Dafür herzlichen Dank.
AUSWEGE möchte mit der Veröffentlichung des Artikels Hartmut von Hentig als einen der führenden kritischen Denker im deutschsprachigen Bildungssystem würdigen. An den aktuellen Fragestellungen um seine Person beteiligen wir uns nicht.
Download des Aufsatzes von Hartmut v. Hentig