Soll Henri aufs Gymnasium?

Nach der Einführung ins Thema kommt das Statement der „Aktion Humane Schule“ zum Übertritt von Henri. Daran schließt sich ein Kommentar von Frieda Röhl an:

gsf – Henri ist ein Junge mit Down-Syndrom. Nach dem Besuch der Grundschule in seinem Heimatort Walldorf – einer Kleinstadt mit rund 15000 Einwohnern im Rhein-Neckar-Kreis nahe Heidelberg – soll Henri nun im Herbst das örtliche Gymnasium besuchen. Sein bisheriges soziales Umfeld soll erhalten bleiben, sagt die Mutter, die seit seiner Geburt für Henri kämpft. Die Schule, das Gymnasium Walldorf, hat jedoch abgelehnt.

Worum es geht, formuliert Spiegel online: „Der Fall des elfjährigen Jungen wächst sich zum Kulturkampf aus. Es geht um eine Grundsatzfrage: Sollen geistig behinderte Kinder gleichberechtigt am Unterricht aller allgemeinen Schulen teilnehmen dürfen – auch wenn sie den Mitschülern kaum folgen können?“

Dass sich die Auseinandersetzung ausgerechnet an der sog. „Elitebildungsanstalt“, dem Gymnasium, abarbeitet, hat etwas Makaberes. Da soll ein Kind eine Schulart besuchen, an der sich teilweise sogar über leistungsschwächere Grundschüler mokiert wird. Teile der Elternschaft sehen die Zukunft ihrer Kinder bedroht, wenn verhaltensschwierige und zu viele „schwache“ Kinder die höhere Bildungsanstalt besuchen würden. Am Gymnasium habe man „Leistung“ zu erbringen und: Bildung wird hauptsächlich über Leistung definiert. Wie durch ein Wunder schaffen den Übertritt ans Gymnasium aber dennoch sog. leistungsschwache Grundschüler in großer Stückzahl! Es ist zum Kringeln.

Halten wir fest: Unser selektives Schulsystem ist schon längst an seine Grenzen gestoßen. Das Gymnasium wird zwischenzeitlich von fast 50% aller Schüler besucht (vgl. dazu Destatis). Das Gymnasium ist damit ansatzweise eine Art Gesamtschule ohne entsprechende Pädagogik und Didaktik. Und jetzt soll es auch noch ein Kind mit Down-Syndrom aufnehmen?

Es ist wirklich gut zu überlegen, ob Henri, „aus seiner Sicht heraus“ am Gymnasium im Rahmen der bestehenden Strukturen und der dort herrschenden Pädagogik gut aufgehoben sein kann. Reicht es für ein gutes Lebensgefühl und für Henris spezifische Weiterentwicklung, sich im Umfeld der Freunde zu befinden? Versteht man darunter noch Inklusion, wenn Henri das Gymnasium besucht? Welche Rolle spielt „Leistung“ in der Inklusion? Ist die Leistungserbringung das Hauptmerkmal schulischer Bildung? Werden die PISA-Macher arbeitslos, wenn noch mehr „Henris“ die höhere Lehranstalt besuchen? Fragen über Fragen…

Viele Lehrkräfte setzen sich online mit dem Fall Henri auseinander. Befürworter und Gegner stehen sich gegenüber. Man kann sogar in Petitionen sein Statement abgeben:

Hier geht es zur Petition für Henris Anliegen

Hier geht es zur Petition gegen Henris Anliegen

In der Regel werden Glaubenssätze ausgetauscht. Der Ruf nach einer grundsätzlichen Reform unseres Schulsysterm, in dem dann auch Henri einen nicht nur geduldeten Platz finden könnte, bleibt aus. Man verharrt lieber im „System“, in dem sich weite Kreise der Bevölkerung privilegiert eingerichtet haben. Die Mittelschicht ängstigt sich sowieso zunehmend um ihre erreichten Standards, kein Wunder, wenn die Ellenbogen gezückt werden.

Es wäre schön, wenn sich auch Auswege-LeserInnen per Kommentar zu Wort melden würden. Wir beginnen mit dem Statement der „Aktion Humane Schule“. Detlef Träbert, stv. Vorsitzender, hat sie uns am 16.4.2014 zuschickt.

Anschließend hat Frieda Röhl den „Übertritt von Henri“ kommentiert:

Aktion Humane Schule kritisiert Weigerung eines Gymnasiums, ein Kind mit Down-Syndrom aufzunehmen

Die Medien  berichten heute über die Weigerung eines Gymnasiums in Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis, Baden-Württemberg), einen Jungen mit Down-Syndrom aufzunehmen. Dabei soll Henri gar nicht das Abitur erreichen, sondern nur sein soziales Umfeld behalten; sich von all seinen bisherigen Schulkameraden trennen zu müssen, wäre für ihn nicht zu verstehen. Es ist sogar gesichert, dass sich ein Sonderpädagoge täglich als Schulbegleiter um Henri kümmert. Diese Geschichte habe, so berichtet beispielsweise die taz, Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgelöst, in deren Verlauf man sich frage, wie weit Inklusion gehen soll.

„Genau diese Frage zeigt das Fehlverständnis von Inklusion“, sagt Detlef Träbert, stellvertretender Bundesvorsitzender der Aktion Humane Schule. Es sei nicht die Frage, wie weit Inklusion gehen soll, sondern: „Wie können wir Aussonderung verhindern?“ Inklusion sei das Menschenrecht auf grundsätzliche Teilhabe. Schulen hätten im Sinne von Inklusion die Verpflichtung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein Kind sich bei ihnen bestmöglich entwickeln könne. Die öffentliche Hand habe das sicherzustellen.

Die Aktion Humane Schule bedauert das mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit für Inklusion. Das sei zwar nicht verwunderlich angesichts der Art und Weise, wie die Schulpolitik Inklusion umsetze. „Aber jede einzelne Person muss sich fragen lassen, wie bereit sie für eine konkrete, menschenfreundliche Akzeptanz des Anders-Seins ist. Schließlich ist jeder Mensch anders und sehnt sich danach, so akzeptiert zu werden, wie er ist,“ sagt Diplom-Pädagoge Träbert. Eine Schule, die ein Kind nicht aufnehmen möchte, weil es das Abitur nicht erreichen kann, taste damit seine Menschenwürde an. „Unsere Zeit erfordert Schulen mit einer anderen Grundhaltung.“


siehe auch die Bestandsaufnahme und Analyse der Inklusion am Beispiel der hessischen Schulen von Johannes Batton: Schöne neue Inklusionswelt