Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten?

Ein Kommentar von Günther Schmidt-Falck

Die Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli forderte Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten. In der Bildzeitung vom 7.1.2018 sagte sie:
„Ich fände es sinnvoll, wenn jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet würde, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht zu haben. Das gilt auch für jene, die neu zu uns gekommen sind. KZ-Besuche sollten zum Bestandteil von Integrationskursen werden.“ (http://www.bild.de/politik/inland/konzentrationslager/pflichtbesuch-fuer-fluechtlinge-54396060.bild.html#fromWall, letzter Zugriff: 23.1.2018) 

Jede/r, der schon mal unterrichtet hat, weiß, dass Pflichtbesuche wenig mit Bewusstseinsbildung zu tun haben. Rassistisches, antisemitisches und ausländerfeindliches Gedankengut bildet sich nicht zurück, nur weil ein/e Schüler_in gesehen hat, wie die Nazis Menschen ausgebeutet, umgebracht und gefoltert haben. Die Auseinandersetzung mit dem NS-System erfordert eine sensible Aufbereitung des Unterrichtsstoffes und ein empathisches Eingehen auf das individuelle Wissen der Schüler_innen und auf das vorhandene Bewusstsein. Andernfalls passiert genau das, was dann hinterher oft beklagt wird – die Lehrkraft wird mit der Abwehr der SchülerInnen konfrontiert: „Müssen wir uns damit beschäftigen…?“ „… das ist schon so lange her!“, „Es muss doch endlich mal Schluss damit sein …“ „Wann gehen wir wieder?“ „Langweilig!“ u.a.mehr. Zu oft kommen Lehrkräfte dann sogar noch in Erklärungsnöte und vermeiden in Zukunft einen Unterrichtsgang in eine Gedenkstätte.

Eine Lehrkraft kann und sollte einen Besuch in einer Gedenkstätte erst dann vorschlagen, wenn eine fundierte Vorbereitung im Unterricht gelaufen ist.  Dann können die Schüler_innen den Besuch richtig einordnen und sind aktiv dabei, nicht als Konsument_innen, die mal einen Tag unterrichtsfrei haben, sondern als eingebetteter Teil in ein Projekt „NS-Zeit“. Ein Besuch in einer Gedenkstätte erfordert ein vertieftes Wissen über die Machtmechanismen im NS-Staat, über wirtschaftliche Zusammenhänge, über die Ideologie der Nazis und über die psychologischen Hintergründe von rassistischem Gedankengut, um nur mal paar Schlaglichter zu nennen.

Dazu müssen Lehrkräfte entsprechend vorgebildet sein und gut aufbereitetes Unterrichts-Material zur Verfügung haben. Auch in Integrationskursen kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die Unterrichtenden fundierte Vorkenntnisse über das Nazi-System haben. Viele Flüchtlinge, die Integrationskurse besuchen, wären sicher sehr interessiert – haben sie doch autoritäre und faschistoide Systeme am eigenen Leib erlebt. Wie ich in der Betreuung eines jungen, erwachsenen Syriers jedoch selber erleben musste, wusste dieser nicht mal, was „Nationalsozialismus“ ist. Den Namen Hitler habe er schon mal gehört. Andere Betreuer_innen berichten Ähnliches. Das alles wäre im Vorfeld eines Gedenkstättenbesuches – auch eines freiwilligen – zu berücksichtigen.

Bevor es also überhaupt Besuche in KZ-Gedenkstätten gibt, sollten sich die Kultusministerien der Länder, die Schulämter und Ministerialbürokraten und Pädagogischen Landesinstitute erst einmal darum kümmern, dass das NS-System überhaupt im Unterricht vertieft durchgenommen wird. Wenn gewährleistet ist – in Schulen und in Integrationskursen – dass der Lernstoff kompetent durchgenommen wurde, wäre ein KZ-Gedenkstättenbesuch im Sinne einer „originalen Begegnung“ sehr sinnvoll. Ansonsten Finger weg von verpflichtenden Unterrichtsmaßnahmen!


siehe dazu auch einen Bericht in „Migazin“: Mehrheit der Länder nicht für Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten