Schulen der Rohheit

Eine Auseinandersetzung mit Philip Kochs Film „Picco“

von Götz Eisenberg

gsf – Der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg sieht mit einer Gruppe von 15 Gefangenen einen „Gefängnisfilm“: „Picco“ von Philip Koch. Dem Film liegt der Foltermord in der JVA Siegburg im Jahr 2006 zugrunde:

Am Samstag, den 11. November 2006 sitzen vier männliche Jugendliche im Alter zwischen 17 und 20 Jahren in einer Zelle des Jugendgefängnisses Siegburg. Zwei von ihnen sind bereits Väter. Während rund um Siegburg herum der Beginn der fünften Jahreszeit gefeiert wird, beginnt für den 20-jährigen Hermann H., der eine Haftstrafe von sechs Monaten wegen Diebstahls verbüßen muss, ein sich über 12 Stunden hinziehendes Martyrium.

Wie werden die Zuschauer an diesem Mittwochabend im April 2011 den Film „Picco“ erleben, wenn schon Besucher bei der Premiere des Films außerhalb des Knasts das Kino verlassen haben, weil sie die Gewalt nicht ertragen konnten?

Am Ende des Aufsatzes äußern sich Hakan, Savas, Paul, Franz und Ben – fünf der zuschauenden Gefangenen – zu ihren Gefühlen und Assoziationen, die der Film bei ihnen ausgelöst hat. Davor analysiert Götz Eisenberg die möglichen Hintergründe des Foltermords in der JVA Siegburg sowie die Wirkmechanismen des „Systems Knast“:

Welche Rolle spielen die Haftbedingungen? Welche Rolle die Gruppendynamik? Verstärken Gefängisstrafen die Kriminalität noch zusätzlich? Welche psychischen Kräfte wirken im Knast, und was bräuchten wir anstelle unseres strafenden Vergeltungssystems? Wie wirken sich die Bedingungen in den Jugendstrafanstalten auf die Entwicklung von Jugendlichen aus?

Götz Eisenbergs Aufsatz ist 22 Seiten lang. Ich rate dringendst, sich von der Länge des Textes nicht abschrecken zu lassen. Er ist „spannend“, „beeindruckend“ von der ersten bis zur letzten Seite, so makaber sich diese Eigenschaftsbeschreibungen in diesem Zusammenhang auch anhören mögen. Gleichzeitig erfahren wir LeserInnen, wie das „System Knast“ seine Insassen verformt und teilweise zerstört. Unbedingt downloaden, ausdrucken, lesen!

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Der Glanz im Kameraauge

 U-Bahn-Attacke als neues „Modell des Fehlverhaltens“

von Götz Eisenberg

gsf – Dezember 07: Die Münchner U-Bahn-Attacke. Zwei junge Männer traten auf einen 76-jährigen pensionierten Schuldirektor ein. Im Januar 2008 schlugen zwei Siebzehnjährige auf den Lokführer ein, als der die beiden Randalierer zur Vernunft bringen wollte. September 09: Dominik Brunner wurde auf einem Bahnsteig der Münchener U-Bahn von einem Siebzehn- und einem Achtzehnjährigen so brutal geschlagen, dass er kurze Zeit später starb. April 2011: Ein achtzehnjähriger Gymnasiast hat im im U-Bahnhof Friedrichstraße einen 29-jährigen Mann schwer verletzt.

Götz Eisenberg beschreibt anhand dieser Fälle ein neues „Modell des Fehlverhaltens“

Wenn man Frust schiebt und sich unwohl fühlt in seiner Haut, wenn man irgendwie auf Krawall gebürstet ist, dann geht man in die Stadt zum nächsten U- oder S-Bahnhof und schlägt und tritt wie von Sinnen auf einen wildfremden Menschen ein. Man kann sicher sein, dass dort Kameras laufen, die Szene mitgeschnitten wird und über kurz oder lang ins Internet gelangt. Eine gewisse mediale Resonanz und traurige Berühmtheit ist einem sicher.

und zeigt sowohl den Zusammenhang zwischen der Komplizenschaft der Medien mit dem Opfer als auch die Förderung der Akzeptanz von Gewalt als Modus der Lösung von Konflikten.

Sein Essay stellt am Schluss die Frage

Was vermag die Mühe von Sozialarbeitern, Lehrern, Sozialpädagogen dagegen auszurichten, dass Kinder und Jugendliche erleben, dass vom Kindergarten, über die Schule bis hin zum Arbeitsmarkt das Gesetz des Stärkeren und der rücksichtslosen, aggressiven Selbstbehauptung gilt?

Eine brennende Frage, mit der wir uns unbedingt beschäftigen sollten.

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©Foto: Alan Rainbow / www.pixelio.de Weiterlesen

Mit Sokrates im Gefängnis – II

Über die Wirkung von kulturellen Projekten – (nicht nur) hinter Gittern – Teil II

von Götz Eisenberg

gsf – Götz Eisenberg, Gefängnispsychologe im hessischen Butzbach, beschreibt in seinem Aufsatz über die Arbeit in einer Kulturgruppe die Erfahrungen von Häftlingen, die Gefahr laufen, in ihren Zellen „einer fortschreitenden sensorischen und intellektuellen Verelendung ausgesetzt [zu sein]“. Durch die Arbeit in der Kulturgruppe finden sie „Zugang zu Gedanken und Gefühlen Fremder und dadurch auch zu fremden Gedanken und Gefühlen bei und in sich selbst“. Die Häftlinge spielen Theater, nehmen an Lesungen teil, hören Musik, schauen sich Filme an und kommen miteinander ins Gespräch.

Im 2. Teil geht es um die Wirkungen der Kulturgruppe, um die persönlichen Entwicklungen und Veränderungen der Gefangenen. Man könnte es auf folgenden Punkt bringen:

„Die in den Gefangenen schlummernden Potentiale kann man nur aus ihnen herauslocken, wenn man an sie und ihre besseren Möglichkeiten glaubt und sie trotz allem, was sie verbrochen und an Leid über andere Menschen gebracht haben, als Menschen wahrnimmt und respektiert.“

Lesen des 2. Teils

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Mit Sokrates im Gefängnis – I

Über die Wirkung von kulturellen Projekten – (nicht nur) hinter Gittern – Teil I

von Götz Eisenberg

gsf – Götz Eisenberg, Gefängnispsychologe im hessischen Butzbach, beschreibt in seinem Aufsatz über die Arbeit in einer Kulturgruppe die Erfahrungen von Häftlingen, die Gefahr laufen, in ihren Zellen „einer fortschreitenden sensorischen und intellektuellen Verelendung ausgesetzt [zu sein]“. Durch die Arbeit in der Kulturgruppe finden sie „Zugang zu Gedanken und Gefühlen Fremder und dadurch auch zu fremden Gedanken und Gefühlen bei und in sich selbst“. Die Häftlinge spielen Theater, nehmen an Lesungen teil, hören Musik, schauen sich Filme an und kommen miteinander ins Gespräch.

Götz Eisenbergs Text lässt uns teilhaben an einer Gefängniswelt, die wir „von draußen“ ganz gerne mit Abstand erleben, auf der anderen Seite aber auch voyeuristisch beäugen. Die sensiblen Beschreibungen der Aktionen und Interaktionen in der Theatergruppe ermöglichen uns, den LeserInnen, den Weg des Voyeurismus zu verlassen und Empathie zu entwickeln, indem uns der Autor teilhaben lässt an der persönlichen Entwicklung der Inhaftierten. … alles lesen

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©Foto: Niko Korte / www.pixelio.de

Bisher in Auswege erschienene Texte von Götz Eisenberg

Apokalypsesehnsucht – Tagebuch einer Katastrophe

von Götz Eisenberg

Sonntag, 13. März 2011

Am Freitag hat ein Seebeben vor der Nordostküste Japans einen Tsunami ausgelöst, der gigantische Wellen auf die Küste prallen ließ. Tausende Menschen starben, viele werden noch vermisst, Hunderttausende sind obdachlos geworden. Fernsehbilder zeigen, wie Wassermassen das Rollfeld eines Flughafens überfluten, Häuser und Autos wie Spielzeug wegspülen und Schiffe weit ins Landesinnere transportieren. Surreale Bilder: Ein Schiff ist auf dem Dach eines Hauses gelandet.

Ich fühle mich an Werner Herzogs Film „Aguirre, der Zorn Gottes“ erinnert. Das Floß unter dem Kommando von Aguirre, der auf der wahnwitzigen Suche nach dem sagenhaften Eldorado ist, treibt den Amazonas hinunter. Plötzlich sieht man ein Boot, das hoch oben in den Baumkronen hängt. Eine Hubschrauberkamera umkreist es zu den Klängen der Panflöte eines peruanischen Sklaven, der die Konquistadoren begleiten muss. Ein Kreis schließt sich: Hier – im 16. Jahrhundert – begann, was nun seinem Ende entgegentaumelt: Naturbeherrschung, die mit Menschenbeherrschung einhergeht, die Jagd nach Gold, Geld und Profit. … weiter

©Foto: Gerd-Altmann-PhotoshopGraphics.com / www.pixelio.de

Bedürfnisse nach Nicht-Veränderung

von Götz Eisenberg

Noch Mitte der 1960er Jahre, also vor gut einer Generation, fuhr die Eisenbahn, die Italienreisende über die Alpen brachte, so langsam, dass Schmetterlinge durch die geöffneten Fenster ein- und ausflogen. Heute wird für 24 Milliarden Schweizer Franken ein Tunnel durch den Gotthard gebohrt, durch den täglich 300 Züge mit bis zu 250 Stundenkilometern rasen werden. Die Fahrtzeit zwischen Zürich und Mailand wird sich von vier auf drei Stunden verringern.

Aus ähnlichen Gründen soll der alte Stuttgarter Kopfbahnhof verschwinden und durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Anders als in der Schweiz, wo alle begeistert und stolz zu sein scheinen, dass der Tunneldurchbruch gelungen ist, rührt sich in und um Stuttgart heftiger Widerstand.

Worum geht es bei diesem Protest?  Inzwischen wird deutlich, dass sich in den Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Bahnhof, aber nicht nur dort, die Konturen neuer Konflikt- und Bruchlinien der sozialen Integration abzeichnen, die sich nicht mehr an tradierte Klassen- und Deutungsschemata halten.  … weiter

Der Gefrierpunkt des Ich

Der losgelassene Markt zerstört das Einfühlungsvermögen

von Götz Eisenberg

gsf – Das Rattenrennen beginnt mit der Geburt, vielleicht sogar bereits davor, schreibt Götz Eisenberg. Wir sind der Hektik, der Unruhe, dem Konkurrenz- und Humankapitaldenken unserer Zeit, unserer Gesellschaft ausgeliefert. In uns macht sich die Jagd nach Erfolg, berührungslose Leere, bodenlose Angst und Gleichgültigkeit breit. Haben wir den Kontakt zur emotionalen Realität verloren?

Dieser und anderen Fragen geht der Autor in seinem Essay über den „Gefrierpunkt des Ich“ nach und untersucht die Wirkmechanismen der Gesellschaft, in der wir leben. … Ich will alles lesen

©Foto: SiepmannH / www.pixelio.de

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